Was weiss der Farn von der Zukunft?

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Was weiss der Farn von der Zukunft?

We have the receipt of fem-seed, we walk invisible.

Wir haben das Rezept vom Famsamen,

wir gehen unsichtbar umher.

Shakespeare, «Henry IV».

Ein Orakel namens Joseph Brodsky.

?ber das Gedicht «Anmerkungen eines Farns»

(«Примечания папоротника», 1989)

Joseph Brodskys letzter Gedichtband «Landschaft mit Hochwasser» («Пейзаж с наводнением», postum 1996) l?sst sich gleichsam als Testament lesen. Der Gestus des «zuletzt vor dem Tod geschriebenen Textes» ist diesem Dichter ohnehin eigen. Brodsky war ein eigent?mlicher Totenpoet in seinen fr?hesten Schaffensjahren — von «Ein Judenfriedhof bei Leningrad» bis «Gro?e Elegie f?r John Donne» — und er sollte es in den Jahren vor seinem Tod wieder werden durch die n?chterne Ank?ndigung seines Ablebens, durch testament?hnliche Texte. Es sind Ein?bungen in die Sterblichkeit — mit dem Blick auf die Unsterblichkeit.

Ein Gedicht tr?gt den r?tselhaften Titel «Anmerkungen eines Farns» («Примечания папоротника») und stammt aus dem Jahr 1989:

                      Примечания папоротника

Gedenke meiner,

fl?stert der Staub.

Peter Huchel

По положению пешки догадываешься о короле.

По полоске земли вдалеке — что находишься на корабле.

По сытым ноткам в голосе нежной подруги в трубке

— что объявился преемник: студент? хирург?

инженер? По названию станции — Одинбург —

что пора выходить, что яйцу не сносить скорлупки.

В каждом из нас сидит крестьянин, специалист

по прогнозам погоды. Как то: осенний лист,

падая вниз лицом, сулит недород. Оракул

не лучше, когда в жилище входит закон в плаще:

ваши дни сочтены — судьею или вообще

у вас их, что называется, кот наплакал.

Что-что, а примет у нас природа не отберет.

Херувим — тот может не знать, где у него перед,

где зад. Не то человек. Человеку всюду

мнится та перспектива, в которой он

пропадает из виду. И если он слышит звон,

то звонят по нему: пьют, бьют и сдают посуду.

Поэтому лучше бесстрашие! Линия на руке,

пляска розовых цифр в троллейбусном номерке,

плюс эффект штукатурки в комнате Валтасара

подтверждают лишь то, что у судьбы, увы,

вариантов меньше, чем жертв; что вы

скорей всего кончите именно как сказала

цыганка вашей соседке, брату, сестре, жене

приятеля, а не вам. Перо скрипит в тишине,

в которой есть нечто посмертное, обратное танцам в клубе,

настолько она оглушительна; некий антиобстрел.

Впрочем, все это значит просто, что постарел,

что червяк устал извиваться в клюве.

Пыль садится на вещи летом, как снег зимой.

В этом — заслуга поверхности, плоскости. В ней самой

есть эта тяга вверх: к пыли и к снегу. Или

просто к небытию. И, сродни строке,

«не забывай меня» шепчет пыль руке

с тряпкой, а мокрая тряпка вбирает шепот пыли.

По силе презренья догадываешься: новые времена.

По сверканью звезды — что жалость отменена

как уступка энергии низкой температуре

либо как указанье, что самому пора

выключить лампу; что скрип пера

в тишине по бумаге — бесстрашье в миниатюре.

Внемлите же этим речам, как пению червяка,

а не как музыке сфер, рассчитанной на века.

Глуше птичкиной песни, оно звончей, чем щучья

песня. Того, что грядет, не остановить дверным

замком. Но дурное не может произойти с дурным

человеком, и страх тавтологии — гарантия благополучья.[241]

Hier meine deutsche ?bertragung, aus dem Band «Brief in die Oase», den ich zum 10. Todestag Joseph Brodskys 2006 herausgegeben habe:

                   Anmerkungen eines Farns

Gedenke meiner,

fl?stert der Staub.

Peter Huchel

An der Position des Bauem err?tst du den K?nig.

Am Streifen Land in der Feme — dass du auf dem Schiff

                                                                  stehst seit ewig.

An den satten Noten in der Stimme der zarten Freundin im H?rer —

dass ein Nachfolger da ist: Student? oder Chirurg?

Ingenieur? Am Namen der Bahnstation — Einsamburg —

dass es Zeit ist auszusteigen, das Ei aus der Schale zu bef?rdern.

In jedem von uns sitzt ein Bauer, ein Spezialist

f?r Wetterprognosen. Etwa so: ein Herbstblatt ist

f?llt es vorn?ber aufs Gesicht, ein Missemtesignal. Das Orakel

ist nicht besser kommt zu dir im Regenmantel das Gesetz:

deine Tage sind gez?hlt — vom Richter, oder anders jetzt —

bleibt dir ohnehin wie man sagt nur noch ein Katzenkrakel.

Was denn, die Natur wird uns unsere Merkmale doch nicht nehmen.

Ein Cherub — der mag vielieicht nicht wissen von wegen

vorn und hinten. Anders der Mensch. Der Helle hat

?berall die Perspektive dass er aus dem Gesichtsfeld

kippt. Und h?rt er eine Glocke an sein H?rorgan flitzen

so schl?gt die ihm: man s?ufl man sticht man gibt den Teller ab.

Deshalb besser: keine Angst! Die zarten Linien in der Hand,

die rosa Ziffer die auf dem Trolleybus-Schildchen tanzt

plus der Effekt der Stukkatur im Zimmer von Belsazar

best?tigen nur dass leider-leider das Schicksal

weniger Varianten hat als Opfer; dass ihr nichts als

ein Restchen habt und am ehesten so endet wie die Wahrsager —

Zigeunerin eurer Nachbarin sagte, Bruder, Schwester, Frau

eures Freundes nur nicht euch. Die Feder kratzt im stillen Raum

in dem etwas wie «nach dem Tod» haust, umgekehrt wie

                                                         Klubt?nze klingend

so sehr ist die Stille ohrenbet?ubend; eine Art Anti-Beschuss.

Im ?brigen hei?t das alles schlicht: so alt bist du dass

der Wurm m?de wird sich im Schnabel zu ringeln.

Der Staub setzt sich sommers auf die Dinge wie winters der Schnee.

Ein Verdienst der Oberfl?che, der Flachheit. Von ihr aus weht

diese Tendenz nach Oben: zum Staub oder Schnee. Oder

einfach zum Nichtsein. Und etwas wie «vergiss mich nicht»

fl?stert der Staub zur Hand mit dem Lappen; schlie?lich flicht

der das Fl?stem des Staubs in seine feuchten faltigen Ohren.

An der Wucht der Verachtung err?tst du: neue Zeiten.

Am Flimmern des Sterns — dass das Mitleid leider

abgeschafft ist als R?ckzug der Energie: gedrosselter W?rme

oder dann als Signal dass es Zeit wird f?r einen selbst

die Lampe zu l?schen; das Kratzen der Feder in der Stille h?ltst

du f?r den Versuch in Kleinschrift die Angst zu verlernen.

Vernehmt diese Reden als den Gesang des Wurms,

nicht als Sph?renmusik, nicht gedacht f?r die Jahrhun —

derte. Ged?mpfter als ein V?gelchen aber voller t?nend

als der Singsang des Hechts. Was schon nah

ist wird kein Tiirschloss stoppen. Doch Schlimmes kann ja

dem Schlechten nicht zusto?en, und Furcht vor Tautologie

                                                      ist Garantie f?r Wohlergehen.[242]

Worum das geheimnisvolle Gedicht kreist, wird in der 2. Strophe explizit: das Orakel. Um Zukunftsdeutung geht es hier, um die seit Urzeiten von den V?lkern praktizierte Mantik, die Wahrsage — und Seherkunst. Und auch der mysteri?se Farn im Titel weist in dieselbe Richtung.

* * *

Farne sind lebende Fossile, die sich seit Hunderten von Millionen Jahren kaum ver?ndert haben. Sie z?hlen zu den ?ltesten Pflanzen auf der Erde, waren im Karbon vor 350 Millionen Jahren die vorherrschende Landpflanze. Farne bl?hen nicht, bilden weder Samen noch Fr?chte, weshalb sie dem Menschen jahrtausendelang ein R?tsel waren.

Ein Kraut, das nicht bl?ht und sich trotzdem vermehrt? Die Menschen umgaben diese Pflanze seit je mit einer geheimnisvollen Aura, ihr wurden ?bematiirliche Kr?fte zugeschrieben. Erst Mitte des 19. Jahrhunderts l?ftete der deutsche Botaniker Wilhelm Hofmeister (1824–1877) das Geheimnis der kleinen braunen Punkte auf der Unterseite der Farnwedel. Es sind Sporenkapseln, die bei trockenem Wetter aufrei?en und die Sporen herausschleudem.

In der Geschichte des Aberglaubens schrieb der Farn ein gewichtiges Kapitel. Die Menschen glaubten, der Farn bl?he nur in der Johannisnacht (24. Juni), der Nacht der Sommersonnenwende (Iwan Kupala bei den Slawen), die ohnehin ein Zeitraum f?r Magie und sonderbare Rituale war. Wem es in dieser Nacht gelang, den «Farnsamen» einzuholen, der gewann ?bematiirliche Zauberkr?fte. Farn sollte unverwundbar machen, vor Blitz und Hagel sch?tzen, D?monen und Hexen fernhalten. Als Gl?cksbringer im Spiel und in der Liebe gait er, im Geldbeutel sorgte er daf?r, dass dieser nie leer wurde, er verhalf zu Wohlstand und Reichtum. Mit Hilfe dieses (vermeintlichen, fiktiven) «Farnsamens» konnte man die Tiersprache verstehen, verborgene Sch?tze finden, sich unsichtbar machen. Shakespeare spielt in «Henry IV» (1. Teil, 2. Akt, 1. Szene) auf diesen Volksglauben an: «We have the receipt of fern-seed, we walk invisible».

Die giftigen Farne waren ber?chtigtes Hexenkraut. Der Aberglaube um sie war so gro?, dass Herzog Maximilian I. von Bayern im Jahre 1611 und das Konzil von Ferrara 1612 das Einholen von «Farnsamen» unter Strafe stellten. Im «Handw?rterbuch des deutschen Aberglaubens» hat der Farn reiche Spuren hinterlassen, und Jacob Grimm schreibt in seiner «Deutschen Mythologie» (II, 1012 f.):

…wer farnsamen holen will, muss keck sein und den teufel zwingen k?nnen. Man geht ihm auf Johannisnacht nach vor tagesanbruch, z?ndet ein feuer und legt t?cher oder breite bl?tter unter das farnkraut, dann kann man seinen samen aufheben. Manche heften bl?hendes farnkraut ?ber die hausth?re, dann geht alles gut… der farnsamen macht unsichtbar, ist aber schwer zu finden, denn nur in der mittsommemacht von zw?lf bis eins reift er, und f?llt dann gleich ab und ist verschwunden.

Bei diesem starken Bezug zur Magie erstaunt es nicht, dass Farnwedel bei Kelten, Angelsachsen und Slawen auch zur Zukunftsdeutung herangezogen wurden — allerdings in schriftloser Zeit, weshalb uns die Details der Deutung ein R?tsel bleiben m?ssen. Anhand der feinen Ver?stelungen, Kr?uselungen, bizarren schneckenartigen Blatt-Einrollungen des Farnkrautes versuchten Druiden und Schamanen, Heiler und Hexer die Geheimnisse der Zukunft zu enthtillen. Das geheime mathematische Potential des Famkrauts wird sich sehr viel spater, n?mlich in unserer Zeit, in Benoit Mandelbrots «Chaostheorie» wiederfmden.

* * *

Das Zauberkraut des Farns macht also unsichtbar, und unsichtbar bleibt in Brodskys Gedicht das Farn-Motiv nach seiner Erw?hnung im Titel. Doch der Gedichttext umspielt, ironisiert und parodiert Orakelspr?che und alte Praktiken der Weissagung. Seien es simple Bauern — oder Wetterregeln (Anfang 2. Strophe), sei es die traditionell von Zigeunern praktizierte Handlesekunst, die Chiromantie (?bergang 4. / 5. Strophe), sei es eine alttestamentarische Weissagung, das Menetekel auf der Wand beim letzten babylonischen K?nig Belsazar (3. Strophe), das beim Propheten Daniel (5, 25–30) geschildert wird. Auf die babylonische Praxis des Sterndeutens, die Kunst der Chald?er, wird in der 7. Strophe angespielt: «Am Flimmern des Sterns — dass das Mitleid leider abgeschafft ist…»

Selbst das alte griechische Orakel in Delphi, das aus der Stimme brach, aus der Stimme der auf dem Dreifu? ?ber einer Erdspalte sitzenden Pythia, ist pr?sent in der parodistischen Version der «zarten Freundin» der 1. Strophe, in deren Stimme vorausklingt, dass das Ende der Liebe kommen wird, dass ein Rivale da ist. Delphi als Hauptort des Orakels: Brodsky wird seiner eigenen freien ?bersetzung des Gedichtes ins Englische den Titel «North of Delphi» geben. Auch die Sibylle ist allem zuvor Stimmgewalt, die R?ume und Zeiten durchdringt und ?berspringt, wie es uns ein Fragment des Heraklit von Ephesos nahelegt:

Die Sibylle, die aus rasendem Mund Ungelachtes,

Ungeschminktes und Ungesalbtes ert?nen l?sst,

reicht mit ihrer Stimme durch tausend Jahre,

denn so treibt sie der Gott an.

* * *

Ob als verballhomtes Delphi-Orakel, ob als babylonisches Stemdeuten oder biblisches Menetekel, ob als Bauern — und Wetterregel, als zigeunerische Handlesekunst oder urt?mliche Deutung der Ver?stelungen des Farnkrauts: Der allgemein-menschliche — und hilflose — Versuch einer Zukunftsvorhersage, der bei zahllosen V?lkern beharrlich unternommen wurde, bezeichnet das zentrale Geschehen in diesem Brodsky-Gedicht, auch wenn der postmoderne Dichtersich dem Gegenstand ironisch-parodistisch n?hert.

Der Dichter selber ist das archaische «Farnkraut», das hier seine «Anmerkungen zur Zukunft» macht. Er ist selber ein Instrument der Zukunftsdeutung, ein sp?ter Vertreter der alttestamentarischen Propheten, auch wenn er die hehre Instanz noch so parodistisch bricht. Damit wird ebenso der Ursprung der Poesie aus der Magie, aus den Zauberspr?chen beschworen wie die uralte Verbindung von Poesie und Orakel. Der Gott der Poesie und der Gott des Orakels ist ein und derselbe: Apollon.

Dieses «Farnkraut» namens Brodsky kennt das Resultat aller Zukunft von allem Anfang an, wenn er die Verfahren der Mantik ironisch bis sarkastisch einander abl?sen l?sst. Er kennt die «Perspektive», die auch in anderen Gedichten der Sp?tzeit Brodskys aufblitzt, das Ziel und Ende eines jeden Menschenlebens: Du wirst sterben. In der leicht saloppen Version der 3. Strophe: «Der Helle hat / ?berall die Perspektive dass er aus dem Gesichtsfeld / kippt. Und h?rt er eine Glocke an sein H?rorgan flitzen / so schl?gt die ihm: man s?uft man sticht man gibt den Teller ab» («Человеку всюду / мнится та перспектива, в которой он / пропадает из виду. И если он слышит звон, / то звонят по нему: пьют, бьют и сдают посуду»).

Dass diese Perspektive universal g?ltig ist, besagt gerade das verschl?sselte Zitat der Totenglocke, die bei einem von Brodskys Lieblings-dichtem auftaucht — bei dem «metaphysical poet» John Donne (1572–1631), den er nicht nur in der «Gro?en Elegie f?r John Donne» von 1963 w?rdigte, sondern auch ins Russische ?bersetzte. Im Anhang zu seinem ersten autorisierten Gedichtband «Haltestelle in der W?ste» («Остановка в пустыне», New York, 1970) finden sich vier ?bertragungen von Gedichten John Donnes.

Das Zitat der Totenglocke, das schon Hemingway f?r den Titel seines Romans «For Whom the Bell Tolls» («Wem die Stunde schl?gt») sich aneignete, findet sich in der 17. Andacht des 1623 entstandenen Andachtbuches «Devotions» von John Donne:

No man is an island, entire of itself; every man is a piece of the Continent, a part of the Main; if a clod be washed away by the Sea, Europe is the less, as well a Promontory were, as well as if a Manor of thy friends or of thine owne were; any mans death diminishes me, because I am involved in Mankind; And therefore never send to know for whom the bell tolls; It tolls for thee.

Kein Mensch ist eine Insel, ein Ganzes in sich selbst; jeder Mensch ist ein St?ck des Kontinents, ein Teil der weiten Erde; wenn ein Erdklumpen weggesp?lt wird vom Meer, ist Europa geringer geworden, genau wie wenn es ein ganzer Vbrsprung, das Haus deiner Freunde oder dein eigenes w?re; der Tod eines jeden Menschen vermindert mich, denn ich bin verflochten mit der Menschheit; und darum schick beim Totengel?ut keinen aus, zu fragen, wem die Stunde schl?gt; denn sie schl?gt dir.

Noch im vulgarisierten Zitat ist die Perspektive klar. Keinerlei Orakel, keinerlei hilflose Versuche ausget?ftelter Zukunftsdeutung k?nnen es verdecken: Am Schluss steht der Tod, dein eigener Tod. Staub, Tod, Stille — darauf geht die Aussicht in diesem Gedicht. Ein Unikum im Wferk Brodskys: Es tragt ein Epigraph von einem deutschen Dichter, Peter Huchel (1903–1981), aus dem Gedicht «Die Engel» (im Band «Gez?hlte Zeit», 1972)[243].

* * *

Die Praxis der Zukunftsdeutung ist so universal wie die allgemein-menschliche Angst vor dem Tod, vor dem Sterbenm?ssen. In Brodskys langem Gedicht «Gesprach mit dem Himmelsbewohner» («Разговор с небожителем») von 1970, wo der Sprechende sich nicht scheut, sich zum modemen Hiob zu stilisieren, hei?t es in der 19. Strophe klar:

                           Ну что же, рой!

           Рой глубже и, как вырванное с мясом,

          шей сердцу страх пред грустною порой,

                      пред смертным часом.

                              Na also, grab

schon! grab tiefer! Nur samt dem Fleisch herausgerissen

            n?h ins Herz die Angst als deine Naht,

                die Angst vorm Sterbenm?ssen.[244]

Und gleich in der folgenden Strophe, ganz ?hnlich wie in dem zwei Jahrzehnte sp?ter entstandenen Gedicht «Anmerkungen eines Farns»: «Die Perspektive des Sterbens / steht immer offen dem Auge» («раз перспектива умереть / доступна глазу»).

Das Besondere des Brodsky-Gedichtes «Anmerkungen eines Farns» liegt aber darin, dass es nicht nur die Verfahren der Zukunftsdeutung parodiert, sondern auch Strategien entwickelt und Empfehlungen gibt, wie dieser vemichtenden Aussicht begegnet werden k?nnte. Der postmoderne Prophet sagt nicht nur die Zukunft voraus und formuliert die Perspektive des Todcs, sondern gibt Anleitungen, Ermahnungen. Sie sind das Wesentliche in diesem Gedicht. Und nicht die Zukunft. Denn der Zukunft gegen?ber war Brodsky zutiefst misstrauisch gestimmt. Das Gedicht «Vertumnus» («Вертумн») von Dezember 1990 spricht eine deutliche Sprache:

Пахнет оледененьем. (…)

В просторечии — будущим. Ибо оледененье

есть категория будущего, которое есть пора,

когда больше уже никого не любишь,

даже себя. (…)

В определенном смысле,

в будущем нет никого; в определенном смысле,

в будущем нам никто не дорог. (…)

Будущее всегда

настает, когда кто-нибудь умирает.

Особенно человек. Тем более — если бог.

Es riecht nach Eiszeit. (…)

Einfach ausgedruckt — nach Zukunft. Denn Vereisung

ist eine Kategorie der Zukunft, einer Zeit,

wo du niemanden mehr lieben wirst,

auch dich selber nicht. (…)

In einem gewissen Sinne

gibt es in der Zukunft niemanden; sozusagen

ist uns in der Zukunft niemand lieb und teuer. (…)

Die Zukunft bricht

immer an, wenn jemand stirbt.

Besonders ein Mensch. Erst recht — ein Gott.[245]

?berhaupt die Zukunft — der illusionslos-antiutopisch eingestellte Brodsky hielt nichts von ihr, stand ihr ablehnend gegen?ber. Sie ist bei ihm ein Zeitraum der K?lte, der Vereisung, der Abwesenheit der Liebe. Schlechthin eine ?ra des Todes.

* * *

Der Anfang der 4. Strophe formuliert einen Imperativ: «Deshalb besser: keine Angst!» («Поэтому лучше бесстрашие!»). Am Schluss der 7. Strophe wird das Schreiben als Mittel der Befreiung von der Angst beschworen; «Das Kratzen der Feder in der Stille h?ltst / du f?r den Versuch in Kleinschrift die Angst zu verlernen» («что скрип пера / в тишине по бумаге / — бесстрашье в миниатюре»). Furchtlosigkeit «in Miniatur», ob als «Kleinschrift» oder «im Kleinen» — es ist eine bescheidene Strategic der Angstbew?ltigung, die der Dichter hier empfiehlt.

Und noch eine f?r Brodsky typische Ermahnung versteckt sich ganz am Schluss des Gedichtes: Vermeide die Tautologie. «Und Furcht vor Tautologie ist Garantie f?r Wohlergehen» («И страх тавтологии — гарантия благополучья»), Brodsky war ein Dichter, der sich als eingefleischter Exilant jede Hoffnung auf Intaktheit und Heimkehr und Heil verbat. Simple Wiederkehr an den Ort des fr?heren Geschehens w?re Tautologie, eine Figur, die Brodsky immer wieder gei?elte: als blo?e Wiederholung im Klischee, ?de Vermassung, sinnlose Vermehrung des ohnehin Vorhandenen.

Tautologie war f?r Brodsky eine Tods?nde des K?nstlers. Auch im Bereich des eigenen Lebens. Er weigerte sich selbst nach der Wende, als das Sowjetimperium untergegangen war, nach Russland zur?ckzukehren. Als Lebender nicht und erst recht nicht als Toter, um der Vereinnahmung durch ein quasi-staatliches Grab und dem russischen Stereotyp des zu Lebzeiten geschundenen, nach dem Tod verkl?rten Dichters zu entgehen. Also wollte er in seinem «irdischen Paradies» Venedig begraben sein, auf der Friedhofinsel San Michele; in jenem Venedig, das der Exilant «siebzehn Winter lang» aufsuchte, ohne dabei je an Wiederholung oder Tautologie zu denken. Denn in der Kunst war Tautologie und Klischee f?r ihn unm?glich, und Venedig f?r ihn — der Ort der Kunst schlechthin, nachzulesen in seinem grandiosen Venedig-Essay «Ufer der Verlorenen» (im englischen Original: «Watermark»).

Und ein anderer Imperativ leitet sich aus der Angst vor dem Sterbenm?ssen ab, jener Imperativ des Staubes: «Vergiss mich nicht» («не забывай меня»), in der 6. Strophe. Es ist der Imperativ, den Huchels Gedicht «Die Engel» vorgegeben hatte mit dem biblisch hohen Register in «Gedenke meiner» und den Brodsky, der Pathosbrecher, herabd?mpft zu einem schlichten: «Vergiss mich nicht!» Die Bewahrung des Ged?chtnisses ist auch ein Motor des Schreibens und Schreibenm?ssens — angesichts des Sterbenm?ssens.

Brodsky ist der Stoiker der Postmoderne. Im Jahr 1994, ein gutes Jahr vor seinem Tod, widmete er einen seiner letzten Essays Marc Aurel (121–180), dem r?mischen Kaiser und Autor der Selbstbetrachtungen. «Hommage an Marc Aurel» ist eine so einf?hlsame wie energische W?rdigung der stoischen Philosophic von Zenon bis Epiktet und Marc Aurel, deren gemeinsames Projekt die ?berwindung der Angst vor dem Tod war. «Bedenke, dass der Hauptquell alien ?bels f?r den Menschen wie auch von Niedertracht und Feigheit nicht der Tod, sondern die Furcht vor dem Tod ist» (Epiktet). Das Ziel der Stoiker war die Gem?tsruhe (griechisch: Ataraxia, lateinisch: Aequanimitas), Gleichmut und Gelassenheit angesichts des Schrecklichen. Brodskys Essay ist eine Vemeigung vor den stoischen Philosophen und mutet fast wie ein Bewerbungsschreiben an, selber in ihre Reihe aufgenommen zu werden. Selbst der Selbstmord, den die Stoiker als Mittel der Freiheit in auswegloser Lage bejahten, findet sich in Brodskys Farn-Philosophic wieder, im «Signal dass es Zeit wird f?r einen selbst, / die Lampe zu l?schen» («указанье, что самому пора / выключить лампу»).

Die allgegenw?rtige Perspektive des Sterbens im Werk des von seiner Herzkrankheit dauemd bedrohten, am 28. Januar 1996 dem Herztod erlegenen Joseph Brodsky schlie?t die Gegenmittel und Strategien der ?berwindung nicht aus, den Imperativ des Schreibens und Gedenkens. Kein anderes Gedicht res?miert derart pr?gnant Brodskys Lebensmaximen wie «Anmerkungen eines Farns». Prinzipien, die er hier, nach der parodistischen Reihung diverser Verfahren der Zukunftsdeutung, in eine Anzahl Ermahnungen kleidet: Vermeidung der Tautologie, Furchtlosigkeit angesichts des Todes, Bewahrung des Ged?chtnisses in der Schrift, Gleichmut und Gelassenheit, Angstbew?ltigung dank der beharrlichen Schreibkunst, dank dem bescheidenen Ger?usch des Schreibger?ts in der Stille. Es ist ein nicht etwa heilendes (eine solche Idee w?re Brodsky suspekt), aber zugleich erhebendes und ern?chterndes Ger?usch. Es ist die klangliche Entsprechung einer Lebens— und Sterbenslehre «im Kleinen», in der Miniatur. Es ist die bescheidene Musik des Farns.

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Ralph Dutli