Zum Kaukasus-Bild A.S. Puschkins

Zum Kaukasus-Bild A.S. Puschkins

Im historisch-kulturellen Bewu?tsein Europas ist der Kaukasus seit langem fest verankert: er bildet den dramatischen Hintergrund f?r die Sage vom gefesselten Prometheus, ist auch Schauplatz f?r die Abenteuer-Fahrt der Argonauten mit dem Raub des Goldenen Vlies’. Der heutige Betrachter nimmt diesen Kaukasus vor allem als Krisengebiet am Rande unseres Kontinents wahr, in dem es im Gefolge des Auseinanderbrechens des Sowjet-Imperiums immer wieder zu kriegerischen Auseinandersetzungen kommt. Dabei erstaunt der hohe Grad an Emotionalit?t, mit dem dieser Proze? besonders in Ru?land aufgenommen wird.

Tats?chlich ber?hrt das Verh?ltnis zum Kaukasus tiefe Schichten des russischen Selbstverst?ndnisses, die sich aus komplexen geschichtlichen und kulturellen Zusammenhangen erkl?ren. Die sich seit Peter dem Gro?en ?ber eineinhalb Jahrhunderte vollziehende physische Inbesitznahme des Kaukasus durch Ru?land war begleitet durch einen Proze? geistig-kultureller Aneignung, der bis heute nachwirkt. Sein Hauptmedium war die Literatur; Koryph?en vom Schlage Puschkins, Gribojedows, Lermontovs und Lew Tolstojs haben diese Tradition begr?ndet.

1. Der Kaukasus als wiederkehrender Bezugspunkt in Puschkins Werk

Es war der russische Nationaldichter A.S. Puschkin, der den Kaukasus seit den 1820er Jahren in Ru?land literarisch salonf?hig machte. Zweimal, in den Jahren 1820 und 1829, unternahm Puschkin ausgedehnte Reisen, die ihn in den Nordkaukasus, nach Georgien und zuletzt bis in die vorderen Frontlinien des russisch-t?rkischen Krieges bei der nordostanatolischen Stadt Erzerum (Arzrum) f?hrte. Der literarische Ertrag waren die 1822 in St. Petersburg erschienene romantische Verserz?hlung «Der Gefangene im Kaukasus» sowie eine unter dem Titel «Reise nach Arzrum» 1835 ver?ffentlichte Reisebeschreibung. Ankl?nge an das Kaukasus-Thema ziehen sich jedoch durch Puschkins gesamtes Werk — in Gedichten, wie etwa den ber?hmten Versen ?ber das jenseits der Wolken schwebende «Kloster auf dem Kazbek», im «M?rchen vom Goldenen Hahn», dem «H?uschen in Kolomna», in den Fragment gebliebenen Reisen des Eugen Onegin, die eine Station «an den Steilufem des Terek» einschlie?en, in dem nicht abgeschlossenen Poem «Tazit», im Entwurf f?r einen Roman in den nordkaukasischen Heilb?dern, in Briefen sowie nicht zuletzt in mehreren Zeichnungen mit kaukasischen Motiven.

Dies alles belegt, da? sich Puschkin bis an das tragische Ende seines Lebens dem Eindruck seiner kaukasischen Erlebnisse nicht entziehen konnte. In seiner letzten Petersburger Wohnung an der Mojka nahmen zwei Kaukasus-Memorabilia, ein S?bel, Geschenk des russischen Kaukasus-Feldherrn General Paskevitsch, und ein ?l-Gem?lde der Daijala-Schlucht, Ehrenpl?tze ein. Das kaukasische Thema war auch in seiner Redaktionsarbeit f?r den «Sovremennik» mehrfach pr?sent.

Bereits wiederholt sind Aspekte von Puschkins Kaukasus-Bild Gegenstand der Forschung gewesen; manches bleibt m?glicherweise noch nachzutragen[115]. Welche nun sind die Komponenten dieses Bildes? Es ist vielschichtig, mit manchen Brechungen und Widerspr?chen. Sicherlich haben darin grandiose Naturschilderungen auch ihren Platz. Dieses Motiv war in die russische Literatur erstmals durch Dichtungen Derzhavins und Zhukovskijs eingef?hrt worden. Beide Autoren hatten jedoch den Kaukasus mit eigenen Augen nie gesehen und erschufen sich ihre Kaukasus-Welt im Stile einer durch Nikolaj Karamsin Ende des 18. Jahrhunderts begr?ndeten Alpen-Romantik.

Mit Puschkin setzt die autobiographische Linie der russischen Kaukasus-Literatur ein. Seine ersten Verse auf die «stolzen Gipfel des Kaukasus» dichtete er Ende Juni 1820 f?r den Epilog seines Poems «Ruslan und Ljudmila». Schon hier f?llt eine ambivalente Beziehung zu der «wilden und m?rrischen Natur» des Kaukasus ins Auge. Sie bildete einen Kontrapunkt zum damals vorherrschenden Zeitgeschmack der Naturschw?rmerei f?r eine dramatische Gebirgswelt. Gleichsam entschuldigend spricht Puschkin davon, er habe vergleichsweise blasse Bilder entworfen. Die Naturschilderungen, die im «Gefangenen im Kaukasus» und in zwei Strophen der Reisen des Onegin danach folgen, sind ebenfalls in einer eher ged?mpften Tonlage verfa?t. Mit Verwunderung ist festgestellt worden, da? die Kaukasus-Natur den gerade 21-J?hrigen zu keinerlei gr??eren lyrischen Werken inspiriert habe[116].

Puschkin vermeidet ?berschwang, ?bemimmt andererseits manches von seinen Vorg?ngern Derzhavin und Zhukovskij. Von der Gro?artigkeit der Natur des Kaukasus sind insbesondere Verse aus dem Prolog des «Gefangenen im Kaukasus» durchdrungen. Diese hat f?r ihn jedoch zugleich Aspekte der D?sternis, ja einer latenten Bedrohlichkeit. In dem Poem ist sie Folie f?r eine Handlung, in deren Mittelpunkt ein gequ?lter russischer Gefangener steht. Von poetischer Natur-Verkl?rung ist hier wenig zu sp?ren. Auch dem Bild des in der europ?ischen Aufkl?rung des 18. Jahrhunderts verehrten «edlen Wilden» kann Puschkin wenig Reiz abgewinnen. «Den wilden Tscherkessen sitzt der Schreck in den Gliedern», hei?t es in einem Brief an den Bruder Lew vom 24.9.1820[117]. Noch deutlicher wird er in der «Reise nach Arzrum»: «Der Mord ist ihnen (i.e. den Tscherkessen) nur eine einfache K?rperbewegung….Was soil man mit einem solchen Volk anfangen?»[118]. Entsprechend setzt sich in der «Arzrum»-Reisebeschreibung die Entzauberung der kaukasischen Natur fort, die f?r Puschkin zunehmend «fmsteren» Reiz ausstrahlt.

Man hat bez?glich der Kaukasus-Schilderungen in Puschkins Werk von der Sch?pfung eines «russischen Orientalismus» gesprochen, parallel zu einer zu gleicher Zeit in westeurop?ischen Literaturen gepflegten Manier, mit der das Gegenbild zu einer «verderbten» westeurop?ischen Kultur entworfen werden sollte[119]. F?r Puschkin spielte jedoch ein anderer Bezugspunkt eine wichtigere Rolle: f?r ihn war der Kaukasus in einem sehr konkreten zeitgeschichtlichen Sinn Schauplatz eines aktuellen Geschehens milit?rischer russischer Inbesitznahme, die er aus vollem Herzen begr??te.

2. Puschkin, der russische Patriot

Damit ist eine zweite Facette im Kaukasus-Bild Puschkins ber?hrt, die ihn als politisch engagierten Zeitgenossen zeigt. Mit Begeisterung preist er die milit?rischen Eroberungen der russischen Zaren im Kaukasus und r?hmt Heldentaten der sie betreibenden russischen Feldherren. Der Epilog des «Gefangenen im Kaukasus» — er entstand erst ein Jahr nach Beendigung seiner Kaukasus-Reise — ist daf?r ein immer wieder zitierter Beleg. Puschkin besingt darin «jene ruhmreiche Stunde, als sich… auf dem unwirschen Kaukasus unser doppelk?pfiger Adler erhob»[120]. Es folgt ein Defilee russischer Heerf?hrer mit der Beschworung des Generals Ermolov als Apotheose.

Die Vers-Erz?hlung ?ber den gefangenen Russen wird so in einen konkreten zeitgeschichtlichen Rahmen gestellt. In seiner Epoche hatte Puschkin wegen dieser patriotischen Verbr?mung wenig Kritik zu gew?rtigen; seine Auffassung wurde ganz ?berwiegend geteilt. Zurechtgewiesen wurde er lediglich von seinem Schriftsteller-Freund Furst Vjazemskij mit Worten, die bis heute wenig an Aktualitat eingeb??t haben:

Was sind Ermolov und Kotljarevskij schon f?r Helden?… Von solchem Ruhm erstarrt einem das Blut in den Adern, und die Haare stehen einem zu Berge. Wenn wir den V?lkern Bildung beschert h?tten, dann g?be es etwas zu besingen. Die Dichtung ist keine Bundesgenossin von Henkern[121].

Heutige westliche Kommentatoren haben f?r den Vorgang das Wort vom «russischen literarischen Imperialismus» gepr?gt[122] — ein Ph?nomen, das keinesfalls auf Puschkin beschr?nkt ist. Elogen auf die Waffentaten Ermolovs im Kaukasus findet man auch bei anderen russischen Schriftstellem der Zeit, so bei Puschkins Freund K?chelbecker, bei Gribojedow, Lermontov, Bestuzhev-Marlinskij oder Denis Davydov[123]. Auch die Dekabristen fanden wenig an seinen kaukasischen Eroberer-Feldz?gen auszusetzen; einer ihrer F?hrer, Pavel Pestel, verfocht ein Konzept, nach dem man den Kaukasus in der Art Ermolovs r?cksichtslos befrieden m?sse, notfalls auch durch Aussiedlung aufs?ssiger Bev?lkerungsteile.

Puschkin blieb von der Gestalt Ermolovs fasziniert und plante einen Roman ?ber den Kaukasus-Feldherm. Bei Lermontov, der ein ?hnliches Erz?hl-Projekt verfolgte, tr?gt die Begeisterung f?r Ermolov bereits Zuge einer Emiichterung: er plante eine Trilogie «aus dem kaukasischen Le-ben, mit dem Tiflis unter Ermolov, seiner Diktaturund seiner grausamen Unterwerfung des Kaukasus…»[124]. Als Puschkin sich 1829 auf die Reise nach Arzrum begab, stattete er dem inzwischen ?ngnadig aus dem Dienst entlassenen Feldherm in Orel einen Besuch ab, der im Einf?hrungsteil der «Reise» beschrieben wird. Nach wie vor empfmdet Puschkin darin Hochachtung f?r die Leistung des Generals.

Puschkins imperiale Phantasie l??t ihn in eine k?nftige Epoche schweifen, in der er Ru?land ?ber den Kaukasus hinaus bis nach Indien vordringen sieht, wie dies in seinem Brief an den Bruder Lew vom 24.9.1820 anklingt. Er mag hier auch unter dem Einflu? von Ideen stehen, die sein Freund Gribojedow ihm vermittelt haben k?nnte. Dieser war seit einer ersten Reise in die Region im Jahre 1818 f?r den Kaukasus engagiert. Als Verfasser einer Denkschrift ?ber die Einrichtung einer transkaukasischen Kompagnie hat Gribojedow die russische Kolonisierung auch in eine ganz konkrete Richtung voranzutreiben versucht. Wie er ist Puschkin von der zivilisatorischen Mission Ru?lands zutiefst ?berzeugt. Schon der «Gefangene im Kaukasus» enthielt die Aussage, da? die Tscherkessen, ein Topos f?r die Kaukasus-V?lker insgesamt, reif f?r die milit?rische und kulturelle Bezwingung durch Ru?land seien. In der «Reise nach Arzrum» bringt er dies auf einen simplen Nenner: Samovar und Orthodoxie. «Es gibt noch ein Mittel, das st?rker und sittlicher ist und mehr unserem aufgekl?rten Jahrhundert entspricht: Die Verk?ndigung des Evangeliums»[125].

Da? Puschkin in der Eroberung des Kaukasus durch Ru?land den Triumph einer ?berlegenen europ?isch-christlichen Zivilisation sieht, kommt auch in dem unvollendet gebliebenen Poem «Tazit» aus den Jahren 1829/30 zum Ausdruck. Seine Hauptgestalt, der Tschetschene Tazit, sollte gem?? Puschkins Planskizze zum Christentum konvertieren und dann auf russischer Seite f?r die Eroberung des Kaukasus ins Feld ziehen.

Lermontov, der als poetischer Herold des Kaukasus nur wenig sp?ter in Puschkins Fu?stapfen tritt, entdeckt bereits fragw?rdige Aspekte in einer Missionierung des Kaukasus durch Ru?land. Der Kaukasus ist ihm Zufluchtsort vor dem «ungewaschenen Ru?land», wie er dies in einem ber?hmten Gedicht von 1841 ausdr?ckt. Zugleich durchschaut er, der an Feldz?gen vor Ort teilnimmt, die ganze Brutalit?t des Kriegsgeschehens. Die «Asiaten», wie er die Gegner nennt, finden zwar wenig Mitgef?hl vor seinen Augen, aber von einem Aufruf zur Mission ist nicht mehr die Rede.

3. Die Nachwirkung

Vor allem zwischen 1820 und 1840 nimmt das Kaukasus-Paradigma in der russischen Literatur einen auff?lligen Platz ein. Spektakul?re Popul?rity erreichte in den 1830er Jahren Alexander Bestuzhev-Marlinskij mit seinen farbigen Romanen aus dem Kaukasus-Milieu. Lermontovs «Held unserer Zeit» variiert das gleiche Thema. Der einflu?reiche Kritiker Belinskij, der 1837 in nordkaukasischen B?dern kurte, kommentierte die durch Puschkin geschaffene literarische Modewelle zu Kaukasus-Motiven; er zeigt sich beeindruckt von ihrer Frische und Originalit?t.

Den Akzent f?r die literarische Behandlung des Sujets setzte Puschkin durch seinen «Gefangenen im Kaukasus». Die erz?hlerische Seite ist darin eng verwoben mit Aspekten eines imperial motivierten russischen Patriotismus. Da? Puschkin — im Gegensatz zu dem ihn kritisierenden Vjazemskij — nie die Gelegenheit hatte, nach Westeuropa zu reisen, und in seinem Erlebnishorizont auf das «unermessliche Ru?land» beschr?nkt blieb, mag dabei seine Optik wesentlich mit bestimmt haben. Schon w?hrend seiner Verbannung im moldauischen Kischinjov hatte er dem milit?rischen Einsatz zum Ruhme der russischen Orthodoxie gegen den muslimischen Feind entgegengefiebert. Wenige Jahre sp?ter zeigte er offene Sympathien f?r die Niederschlagung des polnischen Aufstandes 1830/31, bei dem der von ihm wegen seiner Taten im Kaukasus bewunderte General Paskevitsch eine Schl?sselrolle spielte. Ausdruck dieser Sympathie ist das Gedicht «An die Verleumder Ru?lands» von 1830, bemerkenswerterweise das meist?bersetzte Gedicht Puschkins ins Deutsche ?ber das gesamte 19. Jahrhundert. In dem 1831 entstandenen Gedicht «Jahrestag von Borodino» besingt Puschkin in patriotischem Geist die Einnahme Warschaus durch Paskevitsch und erinnert sich dabei lebhaft vorausgegangener Eroberungstaten des Generals im Kaukasus.

Man wird Puschkin kaum einen Gefallen tun, wenn man diesen zeitbedingten Aspekt seines Kaukasus-Bildes ?bert?ncht, wie dies gelegentlich auch heutige russische Autoren noch versuchen[126]. Es tut seinem Genie keinen Abbruch. Gerade bez?glich des Kaukasus war er von einer imperialen Sendung Ru?lands tief ?berzeugt und hat sie in seinem Werk offen zum Ausdruck gebracht. Damit begr?ndete er eine Tradition der kulturellen Aneignung des Kaukasus durch Ru?land, die der milit?rischen auf dem Fu?e folgte. Als die milit?rische im Jahre 1859 durch den Sieg ?ber Shamil, den Imam von Dagestan, endlich zu einem Abschlu? gelangte, empfand Ru?land dies als Gelegenheit, einen «russischen, einen Pushkin-Toast» an Lord Palmerston und Napoleon III zu senden, gegen die man soeben im Krim-Krieg bitter unterlegen war[127].

Die Wirkungen dieser kulturellen Aneignung des Kaukasus durch Ru?land, die sich von Anfang an konzentrierten auf Georgien und Armenien als christlich-orthodoxen Bruderstaaten, bleiben bis heute sp?rbar. Bei L?sung gegenw?rtig im Kaukasus anh?ngiger politischer Fragen machen sie sich als Element der Irrationalit?t komplizierend bemerkbar. Als Illusion erwiesen hat sich die in Puschkins «Gefangenen im Kaukasus» gehegte Erwartung, da? der Kaukasus durch Ru?land mit milit?rischen Mitteln dauerhaft befriedet werden k?nnte («…Kaukasus, sei unverzagt, es naht Ermolov…»). Was aus dem Versuch der kulturellen Aneignung schlie?lich hervorgehen wird, bleibt abzuwarten.

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Dieter Boden